Autor: Jens Wilhelm // Informationen zu den Analysen: https://osf.io/qgpju/
Bei der Parteiidentifikation (PID) handelt es sich um eine psychologische Disposition, die dem Bürger bei der individuellen Wahlentscheidung hilft, indem die PID den Individuen bei der Informationsbeschaffung und -verarbeitung über politische Sachfragen und bei der Vorbereitung von politischen Entscheidungen entlastet (Campbell et. al., 1960). Allerdings wird sowohl in der Medienberichterstattung als auch in der Forschungsliteratur oftmals eine Entfremdung der Bürger von den politischen Akteuren, insbesondere der politischen Parteien, postuliert (u.a. Arzheimer, 2012). Diese Entfremdung macht sich einerseits in einem Mitgliederschwund bei den politischen Parteien bemerkbar, aber auch in einem Rückgang von Vertrauen zu Parteien und auch in einem Rückgang der Parteiidentifikation (Gabriel, 2013). Diesen Entwicklungstrend bezüglich der Parteiidentifikation wird entweder als Dealignment oder als Parteienverdrossenheit bezeichnet. Der Unterschied zwischen diesen Phänomenen liegt darin, dass unter dem als Dealignment bezeichneten Prozess eine kontinuierliche Abnahme der Parteibindung aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels und demzufolge einer Auflösung von traditionellen Bindungen gemeint ist. Die Parteienverdrossenheit hingegen bezeichnet den plötzlichen Bruch mit den politischen Parteien aufgrund von Krisensituationen und einer Unzufriedenheit mit der Leistung der Regierung (Arzheimer, 2006). In der folgenden Analyse soll empirisch überprüft werden, ob anhand der vorliegenden Daten eine Abnahme der Parteiidentifikation festgestellt werden kann und wenn ja, ob diese Entwicklung als konstante Abnahme im Sinne der Dealignment-Hypothese oder als abrupter Bruch im Sinne der These der Parteienverdrossenheit beschrieben werden kann?

Bei der Betrachtung des Verlaufs der Entwicklung der Parteineigung wird ersichtlich, dass die These des Dealigments anhand des vorliegenden Datensatzes bestätigt werden kann, da seit Beginn des Datensatzes eine kontinuierliche Abnahme der Parteineigung vorliegt: zu Beginn der Erhebung im Jahr 1977 betrug der Anteil der Personen mit einer Parteineigung etwa 80%, 2016 hingegen waren es nur noch etwa 60%. Dies bedeutet, dass der Anteil der befragten Personen mit Parteineigung innerhalb von 40 Jahren um etwa 20% abgesunken ist. Im nächsten Schritt der Analyse wird betrachtet, wie sich die Identifikation mit einzelnen Parteien im Vergleich zum Wert im Jahr 1982 entwickelte, um so analysieren zu können, inwiefern sich dieser kulturelle Wandel auf die einzelnen Parteien ausgewirkt hat und manche Parteien von diesem Wandel stärker betroffen sind als andere.

Bei der Betrachtung der Daten ist auffällig, dass die Kurven von SPD, Union und FDP allesamt in den negativen Bereich des Diagramms fallen und mit einer Ausnahme (Union in den Jahren 1990 und 1991) konstant im negativen Bereich verweilen: dies deutet darauf hin, dass es keiner dieser Partei gelang prozentual betrachtet mehr Parteianhänger zu gewinnen als im Vergleichsjahr 1982. Dies kann als weiterer Indikator für die Dealignment-Hypothese betrachtet werden. Weiter ist auffällig, dass die Verlaufskurve der SPD deutlich stärker negativ verläuft als die der Union und der FDP. Die Verluste der FDP im Vergleich zum Ausgangsjahr sind recht konstant im Bereich zwischen einem Verlust von einem und drei Prozent. Die Verluste der Unionsparteien im Vergleich zu 1982 betragen seit der Wiedervereinigung recht konstant etwa fünf Prozentpunkte. Die Verluste der SPD hingegen verlaufen wesentlich stärker: 2016 gaben fast 13 Prozent weniger Befragte an, sich mit der SPD zu identifizieren als dies noch 1982 der Fall war. Daraus kann geschlossen werden, dass von allen untersuchten Parteien die SPD am stärksten von einem konstanten Anhängerschwund betroffen ist. Hierzu im Vergleich verläuft die Verlaufskurve der Befragten ohne eine Parteineigung stets im positiven Bereich des Diagramms: dies bedeutet, dass der Anteil derer ohne Parteineigung in den Folgejahren immer größer war als im Ausgangsjahr 1982. Auch diese Verlaufskurven bestätigen die These des Dealignments. Als Abweichung von diesem generellen Trend des Verlustes von Parteianhänger kann die Partei B90 / Die Grünen herangezogen werden: seit 1982, also wenige Jahre nach ihrer Gründung, konnte die Partei konstant ihre Anhänger vermehren, sodass bis zum Jahr 2016 eine Steigerung der Anhängerschaft von etwa fünf Prozentpunkten festgestellt werden kann. Doch stellt diese Entwicklung tatsächlich eine Abweichung von der Theorie des Dealignments dar? Zur Erinnerung: die Theorie des Dealignments besagt, dass es aufgrund einer Auflösung alter gesellschaftlicher Konfliktlinien zu einer Entfremdung von politischen Parteien als Repräsentanten dieser Konfliktlinien kommt. Allerdings: die Partei B90 / Die Grünen repräsentiert keinesfalls eine dieser traditionellen gesellschaftlichen Konfliktstrukturen, sondern eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie, die sich erst im Zuge dieses sozialen Wandels in westlichen Gesellschaften etablierte: der Konfliktlinie Ökonomie vs. Ökologie.
Im letzten Schritt der Analyse wurde betrachtet, wie sich die Parteiidentifikation in Abhängigkeit des Bildungsgrades entwickelt hat. In der folgenden Abbildung wurden Personen mit hoher Bildung (hellblaue Linie) Personen mit geringer Bildung (braune Linie) gegenübergestellt.

Bei der Betrachtung der Verlaufskurve werden zwei Entwicklungen deutlich: zum einen, dass sowohl bei den Personen mit hoher Bildung als auch bei Personen mit niedriger Bildung die Tendenz eindeutig die Dealignment-These stützt. In beiden Teilgruppen ist der Anteil an Befragten mit einer Parteineigung im Trend rückläufig. Zum anderen wird deutlich, dass dieser Trend nicht in beiden Teilgruppen identisch verlaufen ist: einige Jahre nach der Wende hat sich zwischen den beiden Teilgruppen eine Kluft gebildet, sodass die PID bei höher gebildeten Personen um 5% stärker ausgeprägt ist als bei Personen mit niedriger Bildung. Dieser Unterschied lässt sich auf den ersten Blick nicht durch eine zunehmende Entfremdung einer der beiden Teilgruppen erklären, sondern vielmehr damit, dass während der rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis 2005 mehr Personen mit hoher Bildung eine Parteineigung aufweisen als dies zuvor der Fall war. Auf den zweiten Blick wirft diese Entwicklung dennoch die Frage auf, wieso es der Politik anscheinend gelang Personen mit hoher Bildung an eine Partei zu binden, allerdings nicht Personen mit niedriger Bildung. Eine abschließende Bewertung dieser Fragestellung liefern die vorliegenden Daten nicht, jedoch kann vermutet werden, dass die durch den gesellschaftlichen Wandel gesteigerte Komplexität des politischen Systems es Personen mit niedriger Bildung schwerer macht, sich mit den Themen und Prozessen des politischen Systems zu beschäftigen und diese daher weniger bereit sind, sich mit Politik zu beschäftigen.
Fazit
Die vorliegenden Analysen anhand der Datengrundlage des Politikbarometers liefern für Deutschland eine Bestätigung der Dealignment-These: durch gesellschaftlichen Wandel sinkt der Anteil der Bürger mit einer Neigung zu einer bestimmten Partei kontinuierlich. Auch konnte gezeigt werden, dass insbesondere die beiden Volksparteien von diesem Wandel betroffen sind. Diese Beobachtung steht im Einklang mit den Annahmen der Dealignment-These, da diese besagt, dass die abnehmende Bedeutung der Parteiidentifikation bedingt ist durch das Auflösen alter gesellschaftlicher Konfliktlinien wie beispielsweise Arbeit und Kapitel oder Staat und Kirche, die im deutschen Parteiensystem durch die beiden besagten Volksparteien repräsentiert werden. Weitere Ursachen für diese Entwicklung können beispielsweise in einer Anreizschwäche von Parteien, einem Vertrauensverlust und einer Entpolitisierung der Gesellschaft gesehen werden (Wiesendahl, 2006). Weiter konnte aufgezeigt werden, dass die These der kognitiven Mobilisierung, nach der die funktionale Bedeutung der Parteien aufgrund einer höheren kognitiven Involvierung der Bürger, sich in einem negativen Zusammenhang zwischen Parteiidentifikation und Bildung niederschlägt, nicht bestätigen. Da die Parteiidentifikation für das politische System insgesamt und die Parteien im konkreten eine wichtige psychologische Bindung darstellt, sollte diese Entwicklung Anlass zu Überlegungen sein, wie diese Entwicklung gestoppt werden kann, beispielsweise wie insbesondere Personen mit niedriger Bildung von den Parteien für sich gewonnen werden können.
Quellen
Arzheimer, K. (2006). ‚Dead men walking?‘ Party identification in Germany 1977 -2002. Electoral Studies, 25, S. 791 -807. doi: 10.1016/j.electstud.2006.01.004.
Arzheimer, K. (2012): Mikrodeterminanten des Wahlverhaltens: Parteiidentifikation. In: Wählerverhalten in der Demokratie: Eine Einführung, Hrsg. Gabriel, O. W./Westle, B., S. 223 -246. Baden-Baden: Nomos.
Campbell, A.,Converse, P.E., Miller,W.E. & Stokes, D.E. (1960).The American voter. New York: Wiley.Gabriel, O. (2013). Einstellungen der Bürger zu den politischen Parteien. In Handbuch Parteienforschung, Hrsg. O. Niedermayer, S. 319 –347. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Keil, Silke I. (2005): Parteiidentifikation als des ‚Pudels Kern’? Zum Einfluss unterschiedlicherFormen der Parteineigung auf die Einstellungen der Bürger zu den politischen Parteien. In: Wächst zusammen, was zusammengehört? Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland, Hrsg. Gabriel, O. W.,Falter, J. W. & Rattinger, H., S. 91 -127. Baden-Baden: Nomos.
Lewis-Beck, M., Norpoth, H. & Jacoby, W. G. (2008): The American Voter Revisited. Ann Arbor: The University of Michigan Press.
Wiesendahl, E. (2006): Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Autor: Jens Wilhelm, Syntax: https://osf.io/qgpju/
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